No. 2 - Hex Hex
Nummer zwei. Diesmal über Hexen und Magie, über Zaubersprüche als Sprechakt, und über das Spiel und die Theorie.
Wer durch einen magischen Zufall hier gelandet ist und bleiben will, möge einen Bannkreis ziehen und sich anmelden:
Braucht die Welt noch einen Text über Cancel Culture? Auf gar keinen Fall. Braucht die Welt noch einen Text über Hexen? Warum eigentlich nicht. Und sei es nur als Exorzismus für die pink kreischenden Kaufempfehlungen, Inspirationssprüche und „Women in Leadership“-Workshops, mit denen wir alle am Weltfrauentag/feministischen Kampftag beworfen wurden (Margarete Stokowski schrieb, man soll sich darüber nicht aufregen, lohnt sich nicht und bringt auch gar nichts, und sie hat sicher recht, but it’s my newsletter and I cry if I want to). Die kapitalistische Vereinnahmung progressiver Politik ist nun wirklich nichts Neues, aber das heißt ja nicht, dass sie einem nicht auf die Nerven gehen kann.
Vor einer ganzen Weile, als die größte Unannehmlichkeit des Reisens noch darin bestand, sich mit zweihundert anderen Menschen in eine Metallröhre zu quetschen, bin ich nach Los Angeles geflogen und habe dort eine Hexe interviewt. Amanda Yates Garcia sagte mir damals:
„Magie beinhaltet einen Sinn für Liturgie, Performance und Humor, es ist eine Praxis der Vorstellungskraft und gibt dieser eine vorrangige Stellung innerhalb eines metaphysischen Rahmens. Das Imaginäre ist real, wenn wir daran teilnehmen. Die Leute sagen: Ach, die Hexerei ist völlig imaginär. Dasselbe gilt für Geld, Geld ist komplett erfunden. Es ist ein Artefakt, das wir kreiert haben und an dem wir teilnehmen. Die Vorstellungskraft ist ein mächtiges Werkzeug: Jedes Gebäude, jeder Film, jeder Roman, jede App hat ihren Ursprung in der menschlichen Imagination. Von den patriarchalen Autoritäten, die Politik und Religion regieren, wird uns oft vermittelt, es gebe keinen Platz für Spiele. Ich bin anderer Meinung. Und ich werde vor dieser Logik nicht kapitulieren.“
Sie beschreibt die Hexerei also gewissermaßen als anarchistische Praxis. Der Text, den ich damals über unser Gespräch und über die Zusammenhänge von Politik und Hexerei, Kultur und Zaubersprüchen geschrieben habe, ist zu lang, um in eine E-Mail zu passen – deswegen ist er hier zu finden. Das Essay ist von 2018, damals schrieb ich, in der Öffentlichkeit sei von der Hexerei noch wenig zu bemerken. Seitdem sind Hexen wieder populärer geworden, es gibt große Communitys auf Instagram und TikTok, unzählige Bücher und Filme, die Magie hat in der Popkultur an Prominenz gewonnen wie seit den neunziger Jahren nicht mehr.
Was sich in diesen drei Jahren auch verändert hat, sind die Begrifflichkeiten des öffentlichen Diskurses. Wo ich damals von „Politischer Korrektheit“ gesprochen habe, würde heute sicherlich „Cancel Culture“ stehen.
Interessanterweise sind die Leute, die sich an diesem Begriff und in der Erweiterung an „Identitätspolitik“ abarbeiten, oft dieselben, die den Verlust der Klassenfrage in zeitgenössischen Diskursen beklagen (es gibt täglich solche Artikel, weshalb ich darauf verzichte, hier eine Sammlung zusammenzustellen). Indem sie das, was gemeinhin unter „Identitätspolitik“ verstanden wird, dafür verantwortlich machen, dass nicht genügend über soziale Ungerechtigkeit gesprochen wird, behaupten sie eine Ausschließlichkeit, die es nicht gibt. Weder in der Realität, wo Fragen von Gender, Race und Klasse fast nie sauber auseinanderdividiert werden können (hier gibt es einen sehr langen, sehr guten Beitrag dazu), noch in der politischen Strategie – gegen die Mittel der Kontrolle zu protestieren, schließt ja nicht aus, die Strukturen der Kontrolle zu bekämpfen. Vielleicht ist die Antwort auf die Frage, warum es statt strukturellen Analysen T-Shirts gibt, viel naheliegender. Vielleicht ist es nicht „Identitätspolitik“, die für die neoliberalen Aspekte von Repräsentation und „diversity management“ verantwortlich ist, sondern, ähm, der Neoliberalismus?
Der Grund, warum ich damals anfing, über Hexen nachzudenken, war Silvia Federici. Ich hatte ihr Buch „Kaliban und die Hexe“ in einem besonders heißen Sommer gelesen, nachdem es gehäuft in meinem Freundeskreis aufgetaucht war, auf Nachtischen und bei Tischgesprächen. Federici, der man nicht nachsagen kann, marxistische Analysen zu scheuen, schreibt darin über die Erfindung des Privateigentums und den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in Europa. Sie ist gewiss nicht die Einzige, die historische Hexenjagden als Machtmittel des Patriarchats beschreibt, aber sie hat einen eigenen Blick auf reproduktive Arbeit und alles, was sie dazuzählt.
Vor ein paar Wochen erschien in der New York Times dieses als Porträt getarnte Essay über Federicis Arbeit, das ihre Theorien insbesondere im Hinblick auf die Pandemie untersucht. Die Gefahr, die darin liegt, Care-Arbeit zu entwerten, tritt in dieser Krise besonders deutlich zutage, so die Autorin. Der Lockdown hat der Schicht, die diese Arbeit – Kinderbetreuung, Altenpflege – normalerweise auslagert, vor Augen geführt, was Care-Arbeit bedeutet. Schon zu Beginn der Pandemie wurde deutlich, dass die Kategorie der „systemrelevanten“ Arbeiter*innen sich fast vollständig mit der Kategorie der dramatisch unterbezahlten Arbeiter*innen deckt. Das hat jetzt alles nicht sonderlich viel mit Hexerei zu tun, aber es zeigt, wie sehr wir gerade im Moment darauf angewiesen sind, dass es Leute gibt, die der Theoriearmut entgegenwirken.
Eine Künstlerin und Autorin, deren Arbeit durchzogen ist von Hexerei, Surrealismus und Magie, ist Leonora Carrington. Als ich vor kurzem bei meinen Eltern in München war, habe ich ihr Buch „The Hearing Trumpet“ (soeben neu aufgelegt von der NYRB) aus dem Bücherregal meiner Mutter gezogen und fand mich in einer Welt wieder, in der die Kritik an Institutionen eine völlig desorientierende Form annimmt. Carringtons Leben ist schon eine Geschichte wert, obwohl ihr Wikipedia-Eintrag nervigerweise zur Hälfte daraus besteht, dass sie mit Max Ernst zusammen war. Aber in ihrem Werk manifestiert sich vor allem die Wirkmacht der Imagination, von der Amanda Yates Garcia spricht. Die Vorstellungskraft, das „Spielen“ ist schließlich auch nicht das Gegenteil von Theorie, sondern nur die andere Seite der Medaille.
Rosanna Graf
Rosanna Graf ist eine Künstlerin, die beide Seiten der Medaille kennt. Ihre Arbeit ist getränkt in Recherchen, Notizen und Texten. Die theoretische Seite tritt in ihren Filmen und Performances aber nie in den Vordergrund, sie sättigt sie nur indirekt. Wie in der Hexerei ist die Anerkennung der Vorfahr*innen die Prämisse, um Neues zu schaffen. Und dieses Neue ist bei Rosanna Graf immer spielerisch.
In „The Super Bad“ (2019), einem Film, der für KONSUM-Abonnent*innen noch einen Monat hier zu sehen ist, spricht eine Hexe zu uns, die „Prepper Witch“. Sie geht durch einen dunklen Laubwald, den sie als ihr Terrain bezeichnet, der dadurch aber nicht weniger bedrohlich wirkt. Wie es sich für eine Prepperhexe gehört, hat sie apokalyptische Vorahnungen – „I’m here to witness the endgame“, sagt sie, und bereitet sich und uns auf ein ominöses “super bad” vor. Das rote Seil, das sie in der Hand hält, ist ihr Werkzeug, das sich gleichzeitig vorübergehend selbstständig zu machen scheint. Ein wenig spiegelt sich darin die Rolle, die Sprache in „The Super Bad“ spielt – ein roter Faden, der manchmal ein Eigenleben entwickelt.

Das Spiel findet sich in Rosanna Grafs Arbeiten auch im doppelten Wortsinn wieder, ihr Gefühl für Dramaturgie und Inszenierung zeigt sich zum Beispiel in der dreiteiligen Performance „Mercury in Retrograde“ (2018-2019), bei der sie die Rolle der Magie in der Popkultur untersucht. Auch dem Film „Livid Living Corpse“ (2017), in dem ein*e Vampir*in in drei verschiedenen Körpern verschiedenste Transformationen durchläuft, sieht man die Lust an der Inszenierung, am Schauspiel an.
Was die Vorfahr*innen angeht, reiht sich Rosanna Graf in die lange Tradition der feministischen Performance- und Videokunst ein, bei der sich die Künstler*innen selbst zum Subjekt nehmen, und sei es nur als Darsteller*innen. Diese Selbstermächtigung ist nicht unpassend, liegt doch ein großer Teil der Anziehungskraft des Hexenmotivs darin, dass es allen zur Verfügung steht.
Sophia Kennedy, deren erstes Album ich bei seinem Erscheinen 2017 so oft gehört habe, dass mein Spotify sich heute noch daran erinnert, bringt am 7. Mai ihr neues Album „Monsters“ heraus. Drei Lieder daraus sind jetzt schon zu hören, und schönerweise hat Sophia Kennedy ihren musikalischen Eklektizismus beibehalten. Ein Alleinstellungsmerkmal sind die Texte, die schlauer sind als vieles, was sonst so aus der Popmusik kommt. Für „Cat On My Tongue“ hat Rosanna Graf ein Video beigesteuert, das vor blauem Himmel mit einer Nahaufnahme eine ganze elegische, sommerliche Geschichte erzählt. Von „Orange Tic Tac“ hab ich schon wieder einen Ohrwurm, und „I Can See You“ ist ausgestattet mit einem Musikvideo, das sogar lustig ist.
In Mithu Sanyals „Identitti“ spielt vor allem die Göttin Kali. Sie spielt mit dem Leser, mit der Protagonistin, sie ist ein Produkt der Imagination und trotzdem so real, dass sie in einer kathartischen Szene die Konflikte löst, die über das ganze Buch hinweg zwischen der Hauptfigur Nivedita und ihre ehemaligen Professorin Saraswati schwelen. Das Buch verhandelt Diskurse um Identität und Race, die ständig um uns alle herumwabern. Mithu Sanyal ist direkt auf sie zugegangen. Das ist mutig und hätte schiefgehen können – ist es aber nicht. Als am Anfang des Buches herauskommt, dass Saraswati, Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf, die sich immer als Person of Color bezeichnet hat, in einem Rachel-Dolezal-ähnlichen Twist eigentlich Sarah Vera Thielmann heißt und weiß ist, wendet sich Nivedita nicht ab, sondern versucht, Saraswati so etwas wie Verantwortung abzuringen. Die Diskussionen und Verwicklungen, die folgen, sind so klug und witzig geschrieben, dass sie an ihnen alle Didaktik abprallt, die man bei einem solchen Buch vermuten könnte. Hier kann man Mithu Sanyal im Instagram-Live-Gespräch mit ihrem Lektor (der – FULL DISCLOSURE! - auch mein Lektor ist) zuhören.
In „O Beautiful Night“, einem Film von Ariana Berndl und Xaver Böhm, trifft ein junger, ängstlicher Mann auf den Tod. Der Tod (Marco Mandić), der in Gestalt eines Kettenrauchers mit Tattoos und Gangsterallüren in einer leeren Kneipe auftaucht, nimmt den jungen Mann (Noah Saavedra) mit auf eine Reise durch eine sehr lange Nacht. Der Film hat mich nostalgisch gemacht für diese langen Nächte – nicht, dass ich ständig mit dem Tod um die Häuser ziehe, aber das Gefühl, das sich einstellt, wenn man nicht nachhause geht, sondern stattdessen von einer seltsamen Szenerie in die nächste stolpert, kann man in Coronazeiten schon mal vermissen. In der Nacht ist alles ein bisschen magischer, es heißt ja nicht umsonst Zwielicht. Der Film hat denn auch etwas märchenhaftes, die Stadt ist leer, der junge Mann, der Tod und das Mädchen, in das sich der junge Mann verliebt (lässig und bravourös gespielt von Vanessa Loibl) bilden die Konstellation einer Fabel unter schütteren Neonlichtern. „O Beautiful Night“ ist noch bis zum 25. März in der Arte-Mediathek zu sehen.
In der Kurzgeschichte „First Face“ zeichnet Hannah Black mit sehr wenigen Strichen eine Welt, in der das Spiel mit der eigenen Identität extreme Züge angenommen hat. Gesichter kann man sich aussuchen, die eigene Geschichte, die eigene Erinnerung ist mühelos modifizierbar. Wer sich selbst nicht auf diese Weise „kuratiert“, macht sich verdächtig. Doch nur Einwohnern der „Clean City“ steht dieses fragwürdige Privileg zu. Die Mehrheit der „Schwarz geborenen“ Leute lebt auf Plasmafarmen am Stadtrand, wo auch Bee, die Protagonistin der Geschichte, herkommt. Hannah Black entwirft diese Dystopie mit einer Lässigkeit und Eloquenz, die ich sehr bewundere.
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