[Text] Hexenwerk
Alte und junge Hexen
Eine weiße Kerze, eine kleine Schüssel Wasser, eine Feder, eine Tarotkarte und ein bisschen Salz – viel braucht man nicht, um Donald Trump zu verhexen. Außerdem: Ein unvorteilhaftes Foto des amerikanischen Präsidenten und einen kleinen, orangen Kerzenstummel, alternativ kann hier auch eine Karotte verwendet werden. Seit Februar 2017 verabreden sich Hexen und Magier, Okkultisten und ein paar vereinzelte Christen, Muslime und Buddhisten, um einmal im Monat ein magisches Ritual zu vollziehen, an dessen Ende heftig gelacht werden soll. So steht es in der Anleitung, die der Autor Michael M. Hughes einen Monat nach Trumps Amtsantritt veröffentlichte, denn, so Hughes: „Narzissten wie er hassen es, wenn man über sie lacht“. Genau genommen handelt es sich hier aber nicht um einen Fluch, sondern um eine Defixion, mit der man böse Mächte zu „binden“ sucht. Selbst wenn es um politischen Wiederstand geht, mag man keine schwarze Magie verwenden. Dafür ist der
Zauberspruch auf geradezu postmoderne Art modifizierbar, damit niemand durch seinen Glauben ausgeschlossen wird. Für FOX News sieht das naturgemäß ein bisschen einfacher aus. Im September letzten Jahres schlug der rechte Sender Alarm. „Hexen stoßen monatlichen Fluch gegen Trump aus“ war das Segment betitelt, man ließ sich aber immerhin dazu hinreißen, eine Hexe einzuladen. Amanda Yates Garcia, das Orakel von Los Angeles, sprach mit Tucker Carlson, dessen kichernden Fragen sie mit freundlicher Ernsthaftigkeit begegnete. Was der Sinn dieser Rituale sei, beantwortete sie so: „Wir wollen unter den Teilnehmern ein Gefühl der Solidarität und Ermächtigung erzeugen, damit sie aktiv werden und sich befähigt fühlen, Dinge zu ändern.“ Anstatt auf ihre Einlassungen über symbolische Handlungen einzugehen, interessierte sich Carlson hauptsächlich dafür, ob Shakespeares Molchaugen tatsächlich eine Zutat bei Zaubertränken seien. Nach der zweiten spöttischen Nachfrage verlor Yates Garcia die Geduld: „Das Problem ist doch nicht, ob Molchaugen eine Zutat sind, das Problem ist, dass die Kinder von Einwanderern bestraft werden, dass wir auf eine nukleare Katastrophe mit Nordkorea zusteuern, dass Studenten immense Schulden anhäufen – “
Zeitgenössische Hexen sind politisch, und ihr Protest gilt keineswegs nur sexistischen Machtstrukturen. Schon bei den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg wurden magische Mittel eingesetzt. 1967, genau fünfzig Jahre vor der Hexenmobilisierung gegen Trump, kündigten Abbie Hoffman und Jerry Rubin, Gründer der „Youth International Party“ an, sie würden das Pentagon schweben lassen. „Wir werden den Pontomac rot malen, die Kirschbäume verbrennen, […] Magier, Swamis, Hexen, Voodos, Zauberer, Schamanen und Speed Freaks werden ihre Magie an die verblassten, braunen Wände werfen.“ Obwohl die Behörden schließlich eine Levitationshöhe von 3 Fuß genehmigten, passierte nichts dergleichen. Was nicht heißen soll, dass nichts passierte: Hunderttausend Menschen marschierten auf das Pentagon zu, und mit dem ersten nationalen Protest gegen den Vietnamkrieg begann für viele eine wichtige Zeit des politischen und sozialen Engagements.
Ich treffe das Orakel von Los Angeles in einer kubanischen Bar, das heißt, in einer Bar, die so kubanisch ist, wie Kalifornier sich das vorstellen – in Los Angeles ist alles eine Frage der Imagination. Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit, große Ventilatoren surren im Wettstreit mit der Klimaanlage. Amanda Yates Garcia hat am renommierten „California Institute of the Arts“ studiert und macht es mir fast ein bisschen zu leicht. Vom Klischee einer etwas merkwürdigen, verwirrten Esoterikerin könnte sie nicht weiter entfernt sein. Sie ist Akademikerin, ruhig und analytisch, neugierig und aufgeschlossen – eine aufgeklärte Hexe also. Sie ist die Tochter einer Hexe und wuchs mit Tarot, Ritualen und feministischem Aktivismus auf. „Weil es keine Regeln gibt, ist Hexerei ist im Grunde eine anarchistische Praxis,“ sagt sie. „Wir haben diese Redewendung: ‚Alle Hexen sind Priesterinnen‘, das heißt, in der Hexerei ist jeder in einer Machtposition. Es geht darum, die eigene Autorität mit Blick auf Spiritualität zu erkennen. Die Hexerei hat keine primäre Doktrin, keine Bibel, keinen Papst. Es ist eine Praxis, kein Glaubenssystem.“ In meinem Hinterkopf rotiert das Symbol der Chaosmagie, ein Rad, dessen Speichen als Pfeile nach außen zeigen. Die Ideen des Jugendstilmalers Austin Osman Spare, in den 1970er Jahren in England zu einer okkulten Pastiche verrührt und als „resultatorientierte“ Magie, die dem postmodernen Skeptizismus standhalten kann, praktiziert.
Natürlich will ich trotzdem wissen, ob Amanda an Magie glaubt. Sie pustet auf ihren Tee und sagt bedächtig: „Magie beinhaltet einen Sinn für Liturgie, Performance und Humor, es ist eine Praxis der Vorstellungskraft und gibt dieser eine vorrangige Stellung innerhalb eines metaphysischen Rahmens. Das Imaginäre ist real, wenn wir daran teilnehmen. Die Leute sagen: Ach, die Hexerei ist völlig imaginär. Dasselbe gilt für Geld, Geld ist komplett erfunden. Es ist ein Artefakt, das wir kreiert haben und an dem wir teilnehmen. Die Vorstellungskraft ist ein mächtiges Werkzeug: Jedes Gebäude, jeder Film, jeder Roman, jede App hat ihren Ursprung in der menschlichen Imagination. Von den patriarchalen Autoritäten, die Politik und Religion regieren, wird uns oft vermittelt, es gebe keinen Platz für Spiele. Ich bin anderer Meinung. Und ich werde vor dieser Logik nicht kapitulieren.“
Wenn wir schon bei patriarchalen Autoritäten sind: Natürlich ist Amanda Feministin, die Figur der Hexe ist schließlich wie kaum ein anderes historisches Bild in feministischen Kämpfen, Schriften und Theorien verankert. Wir sprechen über unsere Mütter, eigentlich sprechen wir über die Generation unserer Mütter, über die Frauen, die in den siebziger und achtziger Jahren die Magie des Hexenwerks für sich nutzten. Ich denke an Silvia Bovenschen, an die historische Aufarbeitung der Hexenprozesse und an das Hexenhaus in der Liegnitzerstraße, das 1981 besetzt wurde, nur zwei Straßenzüge entfernt von meinem Zuhause in Berlin. Amanda denkt vielleicht an die Dianische Ausrichtung von Wicca, der neuheidnischen Naturreligion, oder an die „Women’s International Terrorist Conspiracy from Hell“, kurz W.I.T.C.H., die 1968 in einem öffentlichen Ritual die Wall Street verfluchten. Die Hexe verschwindet nie ganz, weder als Angstbild, noch als Ermutigung. Auch die historischen Debatten über die Zeit der Hexenverfolgung nehmen kein Ende, die Quellenlage ist schlecht, Zahlen zu ermordeten Frauen und Männern und ihrem jeweiligen Anteil an den Opfern schwanken erheblich.
Es ist auffällig, wenn auch nicht gerade konterintuitiv, dass die Hexe immer dann Konjunktur hat, wenn der Feminismus eine starke Phase erlebt. In den neunziger Jahren konnte man das vor allem in der Popkultur beobachten, was ja irgendwie auch zu den Neunzigern passt. Hexen bevölkerten die Fernsehbildschirme und tauchten in Songtexten auf. Bis die Hexerei aber wieder einen explizit politischen Gestus bekam, dauerte es noch ein paar Jahre. Auf die Frage, was uns von unserer mütterlichen Hexengeneration unterscheidet, lässt Amanda das Schlagwort „Intersektionalität“ fallen. Konkret bedeutet das für sie zum Beispiel, respektvoll mit den unterschiedlichen Magie- und Hexentraditionen anderer Kulturen umzugehen. Womit Amanda nicht zu kämpfen scheint, sind die Assoziationen, die noch aus dem Deutschland der 70er Jahre kommen. Man kämpft sich durch ein Knäuel von imaginierten Bildern, von BH-Verbrennung auf dem Scheiterhaufen, über Wohngemeinschaften, in denen es nach nasser Wolle riecht, bis hin zu – tatsächlich immer noch – schlecht riechenden Achselhaaren und Warzen auf der Nase. Wie langweilig. Und dennoch sehe ich auch hierzulande immer öfter auf einem Tisch im Café das Buch „Kaliban und die Hexe“ liegen, in dem die feministisch-marxistische Wissenschaftlerin Silvia Federici die Bedeutung der ursprünglichen Akkumulation und die Rolle der Frau im Übergang vom feudalistischen zum frühkapitalistischen System untersucht – hauptsächlich in Bezug auf die Hexenverfolgung. Auf Partys sprechen junge Frauen, die über jeden Hippie-Verdacht erhaben sind, über Tarot oder Astrologie, und manchmal treffen sich ein paar dieser Frauen, um die Sommersonnenwende mit dem Verbrennen einer BILD-Titelseite über Alexander Gauland zu begehen. Es sind keine organisierten Verbände, keine Gruppen, nicht mal offizielle Hexenzirkel, und so ist in der Öffentlichkeit wenig davon zu bemerken. Aber auch das wird nicht lange so bleiben.
Hexenjagd
„Bei der feministischen Agenda geht es nicht um Gleichberechtigung für Frauen. Es ist eine sozialistische, familienfeindliche politische Bewegung, die Frauen dazu ermutigt, ihre Ehemänner zu verlassen, ihre Kinder umzubringen, Hexen zu werden, den Kapitalismus zu zerstören und lesbisch zu werden.“ Diesen denkwürdigen Satz sagte Pat Robertson, Vorsitzender des „Christian Broadcasting Network“ und beliebter konservativer Kommentator, 1992 als Reaktion auf eine Gleichstellungsinitiative. Die Hexe als politisches Angstbild taucht immer noch ab und zu auf, zum Beispiel als Hillary Clinton im Wahlkampf als Hexe bezeichnet wurde, oder als Margaret Thatcher starb und das Lied „Ding Dong The Witch is Dead“ Platz zwei der Englischen Charts erreichte. Aber es hat immer etwas Abgestandenes, Altmodisches oder zumindest unfreiwillig Komisches, wenn jemand ernsthaft versucht, eine Frau als Hexe zu diffamieren, vor allem, seitdem sich Frauen den Begriff angeeignet haben. Hexen, die den Kapitalismus zerstören! Yes, please! Vielleicht ist das der Grund, warum man sich im rechten Lager einer anderen Methode zugewandt hat, nämlich der Umkehrung. Die „Hexenjagd“ ist zu einem Lieblingsbegriff der Selbstviktimisierung avanciert. Donald Trump schrie „Hexenjagd“ während seiner Amtszeit bei jedem erdenklichen Anlass und manchmal auch völlig ohne erkennbaren, die NZZ beklagt regelmäßig Hexenjagden an amerikanischen Universitäten und Horst Seehofer sieht sogar das „Automobil an sich“ davon betroffen. Popularisiert wurde der Begriff hierzulande mit der deutschen Übersetzung von Arthur Millers „Hexenjagd“, „The Crucible“ im Original. In Millers Theaterstück über Salem spielt die McCarthy-Ära die Hauptrolle, aber wie die Hexenjagd vonstatten geht, ist nicht unerheblich: Es ist eine junge Frau, die sich an ihrem Geliebten rächt und ihn zu diesem Zweck der Hexerei beschuldigt. Der unschuldige Protagonist des Stückes muss am Ende hängen.
Auffällig häufig wird der Begriff der Hexenjagd denn auch verwendet, wenn Männer in Machtpositionen kritisiert oder eines Verbrechens bezichtigt werden, vor allem, wenn es Frauen oder Minderheiten sind, die Kritik üben. Im Zuge von #MeToo war plötzlich von allen möglichen Männern zu hören, es handele sich hier um eine Hexenjagd. Wie bunt der Strauß an angeblichen Hexen war, zeigt eine kleine Auswahl. Der Schauspieler Liam Neeson, der Bürgermeister von Bad Hersfeld, Thomas Fehling, und der AfD-Politiker Robby Schmidt, sie alle gehören jetzt wohl einem illustren Hexenzirkel an. In diesem Akt der Verdrehung finden sich alle Behauptungen und Narrative wieder, die Opfern von sexualisierter und rassistischer Gewalt auch auf individueller Ebene immer wieder entgegenschlagen: Das Opfer lügt und will sich rächen, das Opfer will mittels einer ausgeklügelten Kampagne die Karriere des Täters zerstören, das Opfer ist eigentlich Täter. Die amerikanische Autorin Lindy West wehrte sich gegen diese Umkehrung, als Woody Allen die Anschuldigungen gegen Harvey Weinstein als Hexenjagd bezeichnete. In einem Artikel für die New York Times schrieb sie: „Ja, das hier ist eine Hexenjagd. Ich bin eine Hexe und ich jage dich.“
Das ist wahrscheinlich nicht besonders hilfreich, um die Ängste und Sorgen der mutmaßlich Gejagten zu lindern. Vorgeblich dient die Allegorie dazu, den Ängsten Ausdruck zu verleihen, der Rechtsstaat funktioniere nicht mehr richtig, „in dubio pro reo“ sei außer Kraft gesetzt. Auf der anderen Seite wissen die Leute, die sich als Opfer einer Hexenjagd gerieren natürlich, dass die Unschuldsvermutung weiterhin gilt und strafrechtliche Konsequenzen vor Gericht ausgehandelt werden. Vielleicht wissen sie sogar, dass die historischen Hexenprozesse in erster Linie vor staatlichen Gerichten verhandelt wurden. Die Allegorie hat also einen anderen Zweck. Wenn man im Bild bleibt, wird hier nicht die fehlende Rechtsstaatlichkeit beklagt, sondern die Anklage an sich. Ein Gericht, dass sich ernsthaft mit der Anklage einer Vergewaltigung befasst, hat sich schon allein dadurch delegitimiert – schließlich ist der gewalttätige Akt in dieser Allegorie so imaginär wie Hexenwerk. Der entscheidende Unterschied zwischen Hexenprozessen und Vergewaltigungsprozessen, dass es nämlich Hexen nie gab, aber Vergewaltigungen durchaus und zuhauf, wird einfach ausgeblendet.
Zaubersprüche
Zentraler Bestandteil jedes magischen Rituals ist der Zauberspruch. Die Sprache nimmt in der Magie einen wesentlichen Platz ein, sie ist hier gleichzeitig Sprechakt und performativer Selbstzweck. Hexen und Zauberer wissen also um die Macht der Sprache. Ein politischer Kontext, in dem die Sprache eine große Rolle spielt und in dem außerdem auffallend häufig von einer „Hexenjagd“ oder einer „Hexenjagd-Atmosphäre“ die Rede ist, ist die verfemte „Politische Korrektheit“.
Ungefähr einmal im Monat fühlt sich ein Journalist dazu berufen, dem originellen Gedanken Ausdruck zu verleihen, wir lebten in einer Welt, in der sowohl die Kunst- als auch die Meinungsfreiheit massiv durch diese Kultur bedroht wird. Folgt man ihren Ausführungen, könnte man den Eindruck bekommen, Gegner rassistischer und sexistischer Sprache belegten fortlaufend Kunstwerke, Filme oder Gedichte mit Flüchen. Die Kritik an der Kunst wird zum großangelegten Schadenszauber umgedeutet, die allein durch ihre Äußerung das Grundgesetz aus den Angeln hebt. Widerspruch und Ablehnung werden in dieser Lesart zu Sprechakten, zu Handlungen.
Natürlich könnte man das von der anderen Seite auch behaupten, schließlich sind es oft rassistische oder sexistische Worte, die kritisiert werden. Manchmal sind es auch Bilder oder Narrative, muss der Vollständigkeit halber gesagt werden, aber hauptsächlich liegt das Augenmerk auf ein Bewusstsein für Sprache. Der Unterschied ist, dass rassistische und sexistische Beleidigungen tatsächlich gewalttätig sind, mindestens aber zu Gewalt führen können. Wenn ein Kunstwerk ob seines Rassismus kritisiert wird, ist allein durch die Aussprache der Kritik noch nichts passiert. Wenn jemand rassistisch beschimpft wird, ist das eine aktive Veränderung der Realität, ein Sprechakt, ein Schadenzauber. Bei dem oben abgedruckten Zauberspruch der Trump-Gegner wurde das Wort „binden“ mit Bedacht gewählt. Im Gegensatz zu einem Fluch, bei dem jemandem Schaden zugefügt werden soll, wird hier versucht, jemanden davon abzuhalten, Schaden anzurichten. In der magischen Welt wäre Rassismus also der Fluchtext, während die Kritik am Rassismus einen Bannkreis zu formen sucht.
Weil aber selbst das meist nicht gelingt und sowieso alle wissen, dass sich weder Rassismus noch Sexismus in der Kunst einfach wegzaubern lassen, geht es oft um etwas anderes: Kontextualisierung. Aus dem Handwerkszeug der Hexerei bietet sich hierfür vor allem die symbolische Handlung an, das Spiel, das manchmal selbst Kunst ist. Vielleicht erinnert man sich: In England, in der Manchester Art Gallery, wurde eines der berühmtesten Bilder der Präraffaeliten abgehängt, „Hylas und die Nymphen“ von John William Waterhouse – und das nur, weil es ein paar junge, nackte Frauen zeigt. So zumindest wurde die Geschichte erzählt, in unzähligen panischen Artikeln. Was tatsächlich passiert ist: Sonia Boyce, eine britische, Schwarze Künstlerin, hat ein Kunstwerk für ihre Einzelausstellung kreiert: Eine Performance, bei der ein berühmtes Bild zeitweise aus einer Kunstgalerie entfernt wird, und die Besucher auf der Leerstelle gebeten werden, ihre Reaktionen auf bereitgestellten Zetteln zu hinterlassen. Auf die Frage, ob das Gemälde in Zukunft wieder dort hängen wird, sagte die Kuratorin Clare Gannaway dem Guardian: „Ja, aber hoffentlich anders kontextualisiert.“ Schon nach sieben Tagen war es wieder an seinem Platz. Man könnte sich fragen, warum die Reaktionen auf diese Performance so heftig ausfielen, dass von Zensur und Bücherverbrennung die Rede war. Man könnte sich fragen, warum die Künstlerin, eine Schwarze Frau, in weiten Teilen der Berichterstattung schlicht ignoriert wurde. Und man könnte sich fragen, warum es den strammen Verfechtern der Kunstfreiheit so wichtig ist, dass ein Kunstwerk ohne Kontext bleibt.
Kunst soll nach rein ästhetischen Kriterien bewertet werden, lautet eines der Argumente, die oft ins Feld geführt werden, besonders wenn es um Künstler geht, die Verbrechen begangen haben. Kunst und Künstler seien streng zu trennen. Dabei vergisst man wohl aber, dass der biografische Kontext sonst selten außer Acht gelassen wird. Sicher, es gibt Spielarten der Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte, die genau das propagieren, aber in der öffentlichen Rezeption wird die schwere Kindheit eines Künstlers oder seine Beziehung zu seinem Heimatort mit großem Eifer hinzuaddiert. Es geht also doch um etwas anderes: Diesem spezifischen Kontext darf keinen Raum gegeben werden, weil man das alles lieber nicht wissen und mitdenken will, weil man die Realität von sexistischen und rassistischen Arschlöchern, die Kunst machen, lieber wegzaubern will. Dem deutschen Zaubertrank der hysterischen Zensurvorwürfe wird dann auch noch ein bisschen Antiamerikanismus beigemischt, der Kunst von Sonia Boyce, den Kritikern einer Balthus-Ausstellung wird protestantische Prüderie und Engstirnigkeit vorgeworfen. Damit sichert man sich die Position der europäischen Weltläufigkeit. Kunst muss man aushalten können, so der Tenor. Aber ist es nicht viel schwieriger, den gesamten Kontext auszuhalten, etwa die Kinder in Balthus‘ Bildern anzusehen und zu wissen, dass dort wirklich Kinder saßen, die sich entblößen mussten? Im besten Fall funktioniert die Kritik an der Kunst wie ein Transformationszauber, eine symbolische Handlung kann eine Rezeptionsebene hinzufügen, die bis dahin unbekannt war oder nicht bedacht wurde. Das Kunstwerk verschwindet dadurch nicht, es verändert sich bloß vor unseren Augen. Für diese Art von Magie lohnt es sich, neue Hexenzirkel zu gründen.