No. 5 - !Attention!
Nummer fünf wird Euch Tränen in die Augen treiben. Es geht um Aktivismus, Infografiken, Sichtbarkeit und Ökonomien der Aufmerksamkeit.

Wer durch einen Zufall hier gelandet ist und diesem Newsletter in Zukunft monatlich seine Aufmerksamkeit widmen will, kann sich hier anmelden:
Über Aktivismus auf Social Media zu schreiben, ist irgendwie so retro. Haben wir das nicht alles schon mal durchdekliniert, 2011, 2012? Social Media ist da, ist Teil des öffentlichen Lebens, get over it, get with it. Aber natürlich ändern sich die Dynamiken immer noch. Im ~ Jahr unserer Seuche ~ haben 75 Prozent der Internetnutzer in Deutschland bei sich selbst eine intensivere Nutzung von Instagram, Twitter und Facebook beobachtet. Die tägliche Zeit, die Menschen durchschnittlich im Internet verbringen, ist um elf Minuten gestiegen.
Ich und meine pedantische Screentime-App können das nur bestätigen. Wenn man niemanden sieht, schaut man eben, was andere so machen. Oder sagen. Oder meinen. Und wenn man sich nur noch bedingt zu Protesten treffen kann, verlegt man den Protest eben in den virtuellen Raum. In meinem Feed (und das ist jetzt auch gleich der Disclaimer: ich konsumiere natürlich nur meinen Feed, also meine BUBBLE, das heißt, alles, was folgt, leite ich aus meiner persönlichen Erfahrung ab) ist die Anzahl der Meinungen, aber vor allem die Anzahl der Aufrufe steil angestiegen. Auf Twitter stellt sich das schlicht als leichte Verstärkung der Dynamik dar, die es schon immer gab, auf Instagram hingegen ist die Veränderung auffällig. In Ermangelung von Strandaufenthalten und Restaurantbesuchen zeigt man jetzt seinen Aktivismus.
Eine dazugehörige, aber schleichendere Entwicklung, die ich seit ein paar Jahren in meinem Freundeskreis beobachte: Diejenigen, die schon immer Newsjunkies waren, die sich ernsthaft mit Politik auseinandergesetzt haben, sind allmählich verstummt, während die, die sich lange Zeit nicht sonderlich für das Tagesgeschehen begeistern konnten, auf einmal sehr viel zu sagen haben.
(Noch ein Disclaimer: Dieser Text ist ziemlich lang geworden, wer also zu den Seligen gehört, die nichts mit Social Media zu tun haben und sich auch nicht dafür interessieren, sollte gleich zum „Artist Feature“ springen, das lohnt sich nämlich)
Wahrscheinlich sollte ich mich einfach über die allgemeine Politisierung freuen. Aber ich kann doch nicht die Einzige sein, die vor jedem Retweet, jedem Aufruf, jeder Infografik einer existenziellen Krise nahe ist. Ich sitze dann da und frage mich: Bringt das was? Wenn ich das jetzt poste, obwohl ich weiß, wie unwahrscheinlich es ist, dass ich jemanden überzeuge, mache ich das nur, um denen, die nicht überzeugt werden müssen, zu signalisieren, dass ich auf der richtigen Seite stehe? Wenn ich fünfzig Stories über dasselbe Thema sehe, weil der Internetgott beschlossen hat, dass dieses Thema gerade relevant ist, macht es dann einen Unterschied, wenn ich auch noch meinen Senf dazu gebe? Eine Zeitlang habe ich versucht, nach dem Motto zu agieren: Wenn niemand etwas sagt, schreibe ich etwas dazu. Wenn nicht, dann nicht. Aber ist das die Antwort?
Was bleibt, ist ein Unbehagen gegenüber dem Diskurs, wie ich ihn erlebe, der sich hauptsächlich auf Affirmation und Ablehnung beschränkt. Auch das liegt in der Natur der Sache. Social Media ist, strukturell gesehen, Werbung. Der Algorithmus belohnt häufiges Posten (wer mehrmals am Tag postet, hat eine höhere Reichweite, kann man zum Beispiel bei BIG COMMERCE über „Social Selling“ lesen) – so zahlt man also, ob man es will oder nicht, mit jedem Aufruf, mit jeder Meinung auf die eigene Marke ein. Ein Essay, in dem etwas Neues gedacht wird, bekommt in den seltensten Fällen dieselbe Aufmerksamkeit wie ein „informativer“ Twitterthread oder eine Infografik – es sei denn, das Essay geht viral. Oft bewegt sich der Diskurs auf einer merkwürdig geschichtsvergessenen Ebene, so als gäbe es bestimmte Diskussionen nicht schon seit Jahrzehnten.
Nein, das hier ist keiner dieser Texte über die „Verrohung des Diskurses“, die „Polarisierung der Gesellschaft“ etc. pp. Wie gesagt: Politisierung kann durchaus schön sein.
Komischerweise wurden die Bedenken, die ich mit mir herumtrage, bei Leuten, die sich sonst zu jedem Thema äußern, dann in den letzten Wochen laut. Der Nahostkonflikt sei zu kompliziert, um ihn auf ein paar Infografiken herunter zu brechen, hörte man vor allem in Deutschland, deswegen sollte man sich zu diesem Thema am besten gar nicht äußern, bevor man Unsinn rede. Man müsse doch nicht zu allem etwas sagen, man könne nicht verlangen, dass alle Experten seien. Das ist sicherlich richtig, aber warum fällt das diesen Leuten jetzt erst auf? Jedes politische Thema ist komplex. Und warum reicht es nicht, sich nicht zu positionieren, warum muss man das auch noch kundtun? Wenn sich der Ton so ändert, nachdem alle monatelang fröhlich zu allem ihre Meinung geäußert haben, wie ist das dann für die Leute, die tatsächlich betroffen sind, und ihre Erfahrungen teilen wollen?
In einem unauflösbaren Widerspruch wird auf der anderen Seite immer wieder suggeriert, sich nicht zu äußern sei letztlich nur eine passive Akzeptanz der bestehenden Verhältnisse, geboren aus Privileg und Faulheit. Was diese Sichtweise völlig außer Acht lässt: Es gibt auch außerhalb von Social Media Möglichkeiten, sich zu engagieren. Wer beispielsweise in seiner eigenen Nachbarschaft aktiv ist oder sich gewerkschaftlich organisiert, kommt mit Instagram vielleicht nicht besonders weit. Auch hier gibt es Ausnahmen (siehe „Organisation“, weiter unten), aber als zum Beispiel im Frühjahr 2020 eine Welle der nachbarschaftlichen Sammelaktionen für Restaurants und Geschäfte stattfand, waren die außen vor, die keine Onlinepräsenz hatten. Und das waren nicht selten die Spätis, die altmodischen Geschäfte, die schon ewig in der Gegend sind und die vielleicht noch nie auf die Idee gekommen sind, mit großer Sorgfalt einen Instagram-Account zu bespielen. Auch Zeit spielt eine Rolle: Wer Unterschriften sammelt, Essen austeilt oder sonst IRL beschäftigt ist, hat vielleicht gar nicht die Zeit, ununterbrochen zu allem etwas zu sagen zu haben.
Im schlimmsten Fall verhindert das Dauerfeuer von Posts und Reposts sogar, dass man sich engagiert, weil man sich ja selbst schon bewiesen hat, wie engagiert man ist. Ein besonders bescheuertes Beispiel kommt aus dem Sommer letzten Jahres, wo auf einmal überall Selfies in Schwarz-Weiß zu sehen waren. Der Geniestreich von einem Hashtag dazu: #ChallengeAccepted. Warum auch immer. Das „politische“ Anliegen war angeblich, zu zeigen, dass man als Frau andere Frauen unterstützt. Das war, neben vielen anderen Dingen, eine wortwörtlich leere Geste: Es ging nicht darum, Aufmerksamkeit für ein Thema zu schaffen, es ging nicht darum, Geld zu sammeln, es gab nicht mal irgendeine Art von Inhalt. Es gibt hunderte solcher Beispiele.
Weder meine Kritik noch meine Überlegungen sind besonders neu. „Was das alles bringen soll“ wurde zum Beispiel 2011 im Zuge des „Arabischen Frühlings“ ausgiebig (vor allem von älteren, weißen Kulturjournalisten) diskutiert. Das Fyre Island des Online-Aktivismus, „Kony 2012“, lieferte den Skeptikern Munition. Seitdem hat sich schönerweise viel getan, um das Vertrauen in diese Mittel zu stärken: #MeToo und Black Lives Matter sind zwei Beispiele, mit denen zweifelsfrei bewiesen werden konnte, dass man Online auch politisch etwas ausrichten kann.
Aber vielleicht ist es trotzdem nicht falsch, nach so langer Zeit noch einmal an die Basics zu erinnern. Online-Aktivismus hat mehrere, unterschiedliche Funktionen (was jetzt folgt, hat keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit).
Zum Beispiel: Information. Informationen live aus Krisensituationen und -gebieten zu teilen, kann sehr hilfreich sein. Citizen Journalism (hello 2012) ist gerade an Orten, an denen es einen Media Blackout oder staatliche Zensur gibt, unverzichtbar. Ich folge mehreren Leuten, die Instagram für solche Dinge nutzen, mit sehr viel Gewinn. Da ist zum Beispiel Alena Jabarine, die aus Israel-Palästina berichtet, oder Tiffany Sia (eine Künstlerin, die ich in diesem Newsletter schon vorgestellt habe), die ihren Account in den Dienst von Nachrichten aus Hong Kong und Protestbewegungen weltweit stellt. Auf internationalen Ebene konnte man in den letzten Jahren einen Informationsaustausch zwischen Protestierenden beobachten: Aktivist*innen aus Hong Kong und Chile, aus Myanmar und den USA teilten Strategien miteinander, in Bezug auf Tränengas und Polizeigewalt, Blockaden und Verhaftungen.
Eng verbunden damit ist Organisation. Das funktioniert vor allem auf lokaler Ebene gut, bei spezifischen Fragen oder Missständen der örtlichen Politik. Dabei darf nur nicht vergessen werden, für wen man sich eigentlich einsetzt, und wie und auf welchen Kanälen diese Leute am besten erreicht werden.
Eine weitere Funktion sind Aufrufe zum Fundraising. Das kann eigentlich nie schaden, solange man sich sicher ist, wofür man Geld sammelt, und welche Organisationen man unterstützt. Effektiver ist es, wenn man nicht nur teilt, sondern selbst etwas dazu schreibt.
Perspektiven, die in den Medien nicht ausreichend repräsentiert sind, können die Gatekeeperfunktion mithilfe von Social Media umgehen und eine Plattform finden. Ich habe in den letzten Jahren viel gelernt von einzelnen Menschen, die zum Beispiel ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus teilen. Hier lohnt es sich, zu prüfen, ob die eigene Perspektive wirklich so unterrepräsentiert ist (Spoiler: meine ist es nicht).
Dann ist da noch Awareness Raising (noch so ein alter Begriff, diesmal aus den 60ern). Hier wird es murky. Die Aufmerksamkeitsökonomie ist, genau wie soziales Kapital, quantitativ unmessbar. Wer wenig Reichweite hat, kann es vielleicht gleich ganz lassen. Auf der anderen Seite hat jemand, dessen 70 Follower überhaupt nichts mitbekommen, vielleicht mehr Chancen auf Resultate, als jemand, dessen 10 000 Follower sich sowieso mit denselben Themen beschäftigen. Eins ist jedenfalls sicher: Wenn ein Thema eine kritische Masse an Aufmerksamkeit erreicht hat, und man weit und breit nichts anderes mehr sieht, braucht man seine eigene Stimme vielleicht nicht hinzuzufügen. Eine große Reichweite bedeutet natürlich auch, dass man Perspektiven, die sonst nicht gehört werden, effektiv weiterverbreiten kann.
Das klingt alles schrecklich offensichtlich, fürchte ich. Trotzdem glaube ich, wenn jeder, der irgendwo irgendwas meint oder zu irgendwas aufruft, vorher zwei Minuten darüber nachdenkt, welche Funktionen (if any) seine Veröffentlichung erfüllt, wären wir schon weiter.

Candice Breitz
Eine Künstlerin, die viel über Ökonomien der Aufmerksamkeit nachgedacht hat, ist Candice Breitz. 2016 begann sie eine Trilogie, die sich mit viel Hintersinn den Fragen widmet, wem man zuhört und warum, wer für wen spricht und welche Geschichten der durchschnittlichen zeitgenössischen Aufmerksamkeitsspanne überhaupt noch standhalten können. In der Videoinstallation „Love Story“, dem ersten Teil der Trilogie, erzählen zwei Hollywoodschauspieler die Lebens- und Fluchtgeschichten von sechs Menschen, die aus so unterschiedlichen Orten wie Syrien, Angola, Indien, Somalia und Venezuela fliehen mussten. Julianne Moore und Alec Baldwin nehmen die Perspektive dieser Menschen ein, erzählen mit ihren Worten, aber natürlich auch mit der Präsenz und Modulation erfahrener Schauspieler. Die längeren Originalinterviews (vier von den sechs kann man auch Online ansehen, in der Installation befanden sie sich in einem anderen Raum) sind weniger leicht zugänglich, und so wird man als Zuschauer*in selbst zu*r Protagonist*in des Kunstwerks: Man verkörpert die mediale Welt, in der das Recht auf Individualität nur wenigen zugestanden wird, in der Sichtbarkeit eine Frage des Berühmtheitsgrads ist – und man schämt sich dafür.

„TLDR“ (2017), der zweite Teil der Trilogie, folgt einer ähnlichen Struktur. Diesmal erzählt der zwölfjährige Xanny Stevens eine Geschichte, die als cautionary tale für Online-Aktivismus gelten könnte: Als Amnesty International sich 2015 nach etlichen Gesprächen mit Sexarbeiter*innen für die Entkriminalisierung eben dieser Arbeit einsetzte, schalteten sich mehrere Prominente in eine Kampagne gegen die Bemühungen ein – scheinbar, ohne den Bericht von Amnesty überhaupt gelesen, oder je mit Betroffenen selbst gesprochen zu haben. Die Installation ist als Triptychon inszeniert, flankiert wird Stevens von einem griechischen Chor aus Sexarbeiter*innen, die sich in dem aktivistischen Kollektiv „Sweat“ engagieren. Auch hier findet man im nächsten Raum zehn Interviews mit den Mitgliedern des Kollektivs. Mit großem dramaturgischen Geschick fordert Candice Breitz durch den Schnitt und die Struktur ihre Zuschauer*innen immer wieder dazu heraus, ihre Aufmerksamkeitsspanne zu überprüfen – wenn Stevens beispielsweise immer wieder sagt: “Are you still there? I’m going to need your attention, just a little bit longer” oder: “I know I could lose you at any minute”. So bleibt am Ende das produktive Unbehagen, dass wir uns aus der medialen Logik selbst nie ganz herausdividieren können.
„Love Story“ ist noch bis zum 2. Juli im Pylon Lab in Dresden zu sehen.
Im Moment arbeitet Breitz an der Installation „Digest“, die vom 17. Juni bis zum 19. September in der Akademie der Künste zu sehen sein wird. Am 29. Juni spricht sie hier darüber.
Auch ganz ohne Aktivismus kann man sich mit der Fraktur und der Kommodifizierung des eigenen Selbst auf Social Media unwohl fühlen. Heinz Helle schreibt in diesem Text sehr lustig darüber, wie es ist, „den interessantesten Job in der deutschsprachigen Agenturszene an Land gezogen“ zu haben, nämlich „die weltweite Social Media Kampagne für den neuen Roman von Heinz Helle“. Eine ähnliche Stoßrichtung hat dieser Essay von Tavi Gevinson, die schon mit zwölf zur Fashion-Bloggerin wurde (als das noch so hieß), und die deshalb ungleich geeignet ist, eine „Investigation“, wie sie es nennt, zu der Frage anzustrengen: „Wer wäre ich ohne Instagram?“ Sie schreibt: „I think I am a writer and an actor and an artist. But I haven’t believed the purity of my own intentions ever since I became my own salesperson, too.“
Wie wir spätestens jetzt wissen, kennt sich Candice Breitz mit der Dynamik von Social Media aus. „This is Germany“ heißt die Videoserie auf Instagram und Facebook, in der sie Menschen einlädt, zu verschiedenen Themen, die Deutschland plagen, etwas zu sagen. Die Videoschnipsel sind nur etwa drei Minuten lang, und die Themen reichen von „Biodeutsch“ bis „Menschen mit Nazihintergrund“ (co-kuratiert von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah). Durch das Format ergibt sich eine kluge Vielstimmigkeit, in der man nach Belieben herumspringen kann.
Die Buchhandlung „She Said“ hat Anfang Juni auf Initiative von Teresa Bücker, Christina Clemm und Carolin Emcke einen Spenden- und Lesemarathon veranstaltet, bei dem es darum ging, vier Organisationen zu unterstützen, die sich der verschärften Notsituation von Frauenhäusern in Deutschland entgegenstellen. Die Lesungen von so unterschiedlichen Autor*innen wie Lena Gorelik, Linus Giese, Olga Grjasnowa, Margarete Stokowski, Mely Kiyak und vielen anderen kann man hier nachhören und -sehen. Auch die Spendenaktion läuft immer noch.
Wer nicht nur monatlich meinem Konsumverhalten folgen will, sondern auch sehr sporadische Takes lesen will, kann mir auf Twitter folgen. Urlaubsfotos und andere halbherzige Selbstdarstellungen gibt’s auf meinem Instagram-Account.