No. 3 - Krise
Three's a crisis. Diesmal über die Protagonist*innen der Finanzkrise, über glamouröse Bankangestellte und Wirtschaftsverbrechen. Und über die Geschichte der Tränen in Hong Kong.
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Ob wir nicht zum Flohmarkt gehen wollten, fragte mich A. Ich wollte nicht. Es war der 14. September 2008 und über Brooklyn hatte sich das stählerne Blau eines Spätsommertages ausgebreitet. Ich war in einer Phase, in der ich mich überaus eifrig an analoger Fotografie versuchte, überhaupt nahm ich mich als angehende Filmemacherin sehr ernst. Ich wollte nach Manhattan, die Banker, deren Jobs in der Schwebe hingen, beobachten (und fotografieren). Meine Freunde hatten andere Pläne. „I don’t really care about politics,” sagten sie unbekümmert, wenn ich versuchte, über den drohenden Kollaps von Lehman Brothers zu sprechen. Damit wir uns nicht falsch verstehen, meine Freunde damals waren zwar privilegiert, aber mit Sicherheit nicht dumm. Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, aber zu dieser Zeit galt Aktivismus als extrem uncool, weite Teile der US-Amerikanischen Linken waren desillusioniert von der letzten Wahl und den erfolglosen Protesten gegen den Irakkrieg. Also machte man es sich in ästhetischer Theorie und poststrukturalistischer Analyse gemütlich. Als ich nach unserem Sonntagsausflug die Zeitung las, hatte Lehman Brothers Bankrott gemacht. Fotos zeigten traurige Banker*innen, die mit Pappkartons in der Hand aus den Bürotürmen kamen. Der Guardian veröffentlichte eine Reihe einfühlsamer Interviews mit den neuerdings Joblosen, als seien sie die Opfer der Krise.
Später, als ich in London lebte und schlechte Kunstfilme machte, bestand eines meiner „Projekte“ darin, mit einer kleinen Handdigitalkamera Bankangestellte zu filmen – aus sicherem Abstand, herangeholt durch möglichst viel Zoom. Stundenlang stand ich vor den seelenlosen Gebäuden der City und sammelte tonloses Material von Leuten in Anzügen, die rauchend auf und ab gingen, telefonierten oder ein Sandwich aßen. Es wurde nie ein Film daraus. Ich glaube, die Aufnahmen waren noch auf der Speicherkarte, als ich meine kleine Digitalkamera irgendwann verkaufte.
Es ist erstaunlich, wie wenig Spuren die Finanzkrise im kulturellen Bewusstsein hinterlassen hat. 2018 jährte sie sich zum zehnten Mal, und die Zeitungen, die normalerweise jeden Jahrestag bearbeiten, als hinge ihr Leben davon ab, beließen es bei ein paar Artikeln im Wirtschaftsteil. Während Anfang der 2010er Jahre noch Filme wie „Margin Call“ und „Inside Job“ gemacht wurden, läuft jetzt auf HBO die Serie „Industry“ (Regie des Piloten weirderweise von Lena Dunham), die junge, aufstrebende Banker*innen als arbeitswütige Misfits darstellt, die es in einem atemlosen Business „schaffen wollen“. Während also das Arbeiten bei einer Bank wieder zum glamourösen Wettkampf stilisiert wird, mangelt es nicht an Finanzskandalen: CumEx, Panama Papers, WireCard, die Liste der abstrakt klingenden Verbrechen löst bei vielen Leuten nur ein Summen im Ohr aus. Das liegt wiederum nicht an der mangelnden Berichterstattung, es liegt daran, dass diese Geschichten sich nicht leicht als solche erzählen lassen – es mangelt ihnen an Protagonist*innen. Das stimmt natürlich nicht, aber indem Wirtschaftsverbrechen (so wie die, die zur Finanzkrise geführt haben) so behandelt werden, als seien sie Naturkatastrophen, und damit so unabwendbar wie ein Taifun oder ein Vulkanausbruch, macht man sie zu Geschichten ohne Täter, aber vor allem ohne Opfer. Geschichten wie die der Menschen in diesem Artikel über Obdachlosigkeit und Mietenwahn in San Francisco gibt es unzählige – man müsste sie nur einweben in die große Erzählung über das, was 2008 passiert ist.
Die kulturelle Amnesie in Bezug auf die Auswirkungen der Finanzkrise führt auch dazu, dass sie in all den Erklärungsversuchen über den Aufschwung von wirren Verschwörungstheorien kaum vorkommt. Wir haben anscheinend kollektiv beschlossen, zu vergessen, dass die Erfahrung vieler Menschen in diesen Jahren die einer „echten Verschwörung“ waren: Während die Existenzgrundlage für viele verlorenging, bekamen die Banken ein Bail-Out, und viele Banker*innen schon ein Jahr später wieder große Bonuszahlungen. 2011, nur drei Jahre nach der Finanzkrise, verloren Regierungen in den Augen vieler mit den Überwachungsskandalen weiter an Legitimation. Wenn also heute Verschwörungstheorien blühen, die mit einer Finanzelite und der Unglaubwürdigkeit von Politikern zu tun haben, ist die interessanteste Frage vielleicht: Wieso zielen sie nicht auf die neoliberalen Systeme, die verantwortlich sind, sondern instrumentalisieren die Gefühle der Machtlosigkeit für rassistische, antisemitische und frauen*feindliche Positionen? So oder so ist es der Analyse nicht zuträglich, diese historischen Ereignisse einfach auszublenden – im schlimmsten Fall führt es dazu, dass die Erklärung beim Vokabular der „abgehobenen Linken in ihrer Filterbubble“, bei der mangelnden Gesprächsbereitschaft ebendieser, oder sogar bei den Geflüchteten, die 2015 nach Deutschland kamen, ansetzt.
Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass sich seit 2008 eines nicht geändert hat: Nach wie vor werden Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert. Die aktuelle Krise ist nur eine weitere Ohnmachtserfahrung, auch hier gibt es, wenn nicht Opfer und Täter, so doch Profiteure und Geschädigte. Es wird darauf ankommen, auch die wirtschaftlichen Zusammenhänge als Geschichten zu erzählen, in denen es Protagonist*innen gibt – wie zum Beispiel die vielen unterbezahlt Pflegenden auf der einen, und Politiker, die mit Hinundherlockdowns die Infektionszahlen in die Höhe treiben, auf der anderen.
Tiffany Sia
Wenn man in die Arbeit von Tiffany Sia eintaucht, verfällt man möglicherweise in einen leicht euphorischen Beziehungswahn. Die Künstlerin, Filmemacherin und Autorin, die in Hong Kong geboren und in New York aufgewachsen ist, versucht sich, wie sie sagt, an einer „Wet Ontology of Hong Kong“. Zu diesem Zweck spannt sie ein weites Netz an Formaten, Materialen und Bedeutungsebenen, in dem sie um die Frage kreist, wie sich gelebte Krisenzeit aufzeichnen lässt.
Ihr Buch Too Salty Too Wet (gestaltet von Virgil B/G Taylor) ist eine Ich-Erzählung, allerdings nicht, wie Sia sagt, um sich ins Zentrum der Geschichte zu setzen, sondern um den historischen Ereignissen der anti-autoritären Proteste in Hong Kong, dem Trauma der Beteiligten, Proportion zu geben. Sia ist eine Archivarin der Gegenwart, und jeder Teil ihrer Arbeit – von der Produktion über die Distribution bis hin zur Form – ist absichtsvoll und bedacht. Vorangestellt ist dem Buch ein Glossar, in dem nur zwei Begriffe stehen: „ham sap“ – wörtlich übersetzt „salty wet“, im übertragenen Sinne „Perverse; perverted; obscene“; und die Steigerung davon: „gang ham gang sap“, „saltier and more wet“, oder „more perverse“.
Feuchtigkeit begreift die Autorin als konzeptuelles Werkzeug, sie spielt auf Barthes Frage aus den Fragmenten einer Sprache der Liebe an: „Wer wird die Geschichte der Tränen schreiben?“ Unter diesem Vorzeichen geht es in dem Buch, das in kurzen, nicht linearen Absätzen geschrieben ist, zuerst um das Trauma, das sich in den Körpern der Menschen ausdrückt, die durch eine solche Zeit leben. Später widmet sich Sia auch der kolonialen Geschichte Hong Kongs, der Unruhe (/Unruhen) der Beteiligten, und der Frage, wie und ob man den Tod einer Stadt betrauern kann (auch hier ein Bezug auf „salting the earth“), aber der Text unterwirft sich nicht der Logik einer Argumentation. Er stellt sich in die Tradition antiker Schriftrollen, deren Bezeichnung im Englischen – „Scroll“ – auf das ständige Scrollen in unserem digitalen Schattenleben anspielt, sowie auf die Filmrolle und das Kontinuum eines Livestreams verweist. „Hell is not a place. Hell is a timeline,“ stellt Tiffany Sia fest.
So klar und persönlich die Sprache ist, so sehr ist das Buch durchzogen von einer kalkulierten Zurückhaltung. Das Glossar ist unvollständig, die Autorin fordert die Leser*innen auf, es selbst zu ergänzen. Sie enthält uns Namen vor, Daten, Orte. Damit gesteht sie dem Rezipienten eine aktive Rolle in der Aufgabe zu, sich „cultural literacy“ anzueignen.
Das „Nasse“ im Titel bezieht sich aber auch auf die Luftfeuchtigkeit in Hong Kong, auf die Atmosphäre, die Materialität der Erfahrungen, die sich nicht in den internationalen Schlagzeilen spiegelt. Außerdem gingen sowohl diesem Projekt, als auch seinem Vorgänger, dem Zine „Salty Wet“ (2019) einige „Leaks“ voraus, bei denen die Künstlerin vorab Teile des Textes veröffentlichte – unter anderem als Geleit zu dem experimentellen Kurzfilm „Never Rest/Unrest“, der als „Crisis News is a Genre Film“ vor kurzem im Online-Programm vom MoMa gezeigt wurde.
Und so ist jedes Detail von Tiffany Sias Werk voll von Querverweisen, Wortspielen und Referenzen: Vom Cover, das aus reflektierender Folie gefertigt ist (in Anlehnung an das Material, das im Notfall zum Einsatz kommt); über die Art der Bindung (ursprünglich als Schriftrolle mit Fadenbindung geplant, was an einem Buchbinder scheiterte, der Bedenken über den Inhalt des Buches hatte); bis hin zur Kalligrafie auf dem Buchrücken (von Jonathan Yu, mit mehr und weniger nassem Pinsel gemalt).
Im New Yorker Artists Space ist nun (auch Online) die Ausstellung „Slippery When Wet“ zu sehen, bei der die vielen Fäden ihrer Arbeit zusammenlaufen. In Videoarbeiten und Installationen entfalten sich die Elemente von „Too Salty Too Wet“ neu, manifestieren sich in „Ziegelsteinen“ aus reflektierenden Büchern, in kantonesischen Wetterberichten, in einer Schriftrolle, die „Too Salty Too Wet“ mit einem Matrixdrucker unerbittlich immer weiterdruckt.
Wenn man einen Einblick in die Gedanken der Künstlerin bekommen möchte, empfehle ich dieses Gespräch anlässlich der Veröffentlichung ihres Buches. Ansonsten kann man ihr auch auf Instagram folgen, wo sie den Strom der Strandfotos und Fitpics mit einer Zusammenstellung von Nachrichten aus Hong Kong unterbricht.
Der Versuch, den vielfältigen Aspekten von Tiffany Sias Arbeit gerecht zu werden, ist ein bisschen lang geraten. Deshalb heute nur zwei Konsumvorschläge.
Eine Krise, die in den letzten Wochen wirklich ALLE verfolgt haben, war die des Schiffs, dass im Suezkanal steckenblieb. Die Politikwissenschaftlerin Charmaine Chua hielt 2018 beim Sonic Acts Festival einen Vortrag über monströse Schiffe, den man hier ansehen kann. Mit der angenehmen Lässigkeit einer amerikanischen Akademikerin spricht sie fast eine Stunde lang über den Bau von Megaschiffen, der einem globalen Wettrüsten ähnelt; über die Auswirkungen infrastruktureller Expansion auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die zwischen die Räder geraten; und über die logistischen Systeme, die hinter unseren alltäglichen Amazon-Einkäufen stehen. Habe selten in einer Stunde mehr gelernt, dabei sind die vielen Informationen immer in einen größeren argumentativen Zusammenhang eingebettet, was das Ganze außerdem unterhaltsam macht.
Der Coronakrise entflohen ist der Protagonist von Leif Randts „Hiper Dino Dramedy“, eine Short Story in Form eines Telegramkanals. Louis war Dramaturg an der Volksbühne, ist jetzt arbeitslos und „bleibt noch ein bisschen“ in Lanzarote. Irgendwie gut zu wissen, dass Telegram auch noch für etwas anderes gut ist als rechtsradikale Verschwörungstheoretiker*innen: Randt nutzt das Medium, um die Geschichte als Chatverlauf zwischen Louis und seiner guten Freundin Charlotte zu erzählen. Mit Fotos, „Einspielern“ eines auktorialen Erzählers und Musik wird die virtuelle Realität, die Literatur ja sowieso immer ist, noch ein bisschen virtueller. Ob Randt seine Protagonist*innen so besonders ernst nimmt, bleibt wie immer ein bisschen unklar. Ich möchte jedenfalls gleich noch ein paar Telegram-Dramedies konsumieren. Das Ganze ist Teil des Programms „Next Wave Theater“, kuratiert von Belle Santos, Selin Davasse, Tilman Hecker und Armen Avanessian, dessen Inhalte fast alle Online zu sehen sind.
Wer nicht nur monatlich meinem Konsumverhalten folgen will, sondern auch sehr sporadische Hottakes lesen will, kann mir auf Twitter folgen. Urlaubsfotos und andere halbherzige Selbstdarstellungen gibt’s auf meinem Instagram-Account.