No. 1 – Seabound/Ahoi, Kameraden
Die allererste Ausgabe! Es geht um Seefahrt und Undinen, Quarantäneflaggen und Luxusyachten, wholesomeness und Wale.
Wer aus Versehen hier gestrandet ist und bleiben möchte, möge die Flagge hissen und sich anmelden:
Nothing is as old as an old meme. Als ich die Idee zu diesem Newsletter hatte, war es Januar, draußen fiel der Schnee, und ich sah mich von Sea Shanties verfolgt. Wie andere virale Geschichten erzeugte auch diese hier einen Wellengang, der schnell wieder verebbte.
Hinter der enormen medialen Aufmerksamkeit, mit der dieses „Phänomen“ bedacht wurde, steckt die Sehnsucht nach einem Internet, das wholesome, ja anständig ist. Jedes soziale Netzwerk durchläuft eine Phase, in der es der Träger für solche Projektionen wird. Erinnert sich noch jemand an die vielen Meinungsstücke, die YouTube in den späten nuller Jahren zum Heilsbringer der Demokratisierung durch Plattenverträge für alle erklärten? Damals war der Aufstieg eines milchgesichtigen kanadischen Jungen (the Bieber) eine Geschichte, die Feuilletonisten die Tränen in die Augen trieb.
In der Zwischenzeit haben sich so ziemlich alle Plattformen als nicht Naziresistent herausgestellt. Überall wüten rechte Trolls und machen Hoffnungen auf ein „anständiges“ Netzwerk zunichte. Das heißt nicht, dass die Sehnsucht abnimmt. Jeder neue Dienst, der frisch und unverbraucht auf der Bildfläche erscheint, wird eine Zeit lang als idealer Kandidat gesehen. Neben den Seemannskanons zirkulierte auch noch die Geschichte eines jungen Mannes, der an Parkinson erkrankt ist, und in einem TikTok-Video zeigte, wie schwer es ist, Tabletten aus dem Spender zu bekommen. Daraufhin brachte sich ein Filmemacher aus Portland 3D-Druck Designsoftware bei und entwarf einen besseren Tablettenspender. Andere TikTok-Nutzer druckten und versendeten den Entwurf, dessen Quellcode offenbleiben soll. Das ist schon um einige Längen nützlicher als „Plattenverträge für alle!“, aber natürlich bleibt die Vorstellung, dass ausgerechnet eine chinesische App mit undurchsichtigen Datenschutzrichtlinien und Zensurtendenzen die Hoffnungen auf ein anständigeres Internet erfüllen soll, eine Illusion. Auch die Tatsache, dass Donald Trump und große Teile seiner Gefolgschaft endlich von den großen Social Media-Plattformen verbannt wurde, wird nicht dazu führen, dass es jetzt die große Gemeinschaft entsteht, von der manche zu träumen scheinen. Vielleicht sollte man endlich auch das Internet legislativ erfassen, wie alle anderen Teile unseres Lebens, anstatt den großen Internetfirmen die Verantwortung zu überlassen – oder darauf zu hoffen, dass ein neues Produkt auf magische Weise eine Gemeinschaft erschafft, in der sich alle anständig benehmen.
Okay, gut, dass wir das geklärt hätten. Aber warum jetzt Seemannslieder? Im Guardian weist der ehemalige Lehrer John Archer, der sich auf neuseeländische Volkslieder spezialisiert hat, zu Recht auf die Parallelen zu Life in Times Of Covid™ hin:
„Ich glaube, dass die Corona-Lockdowns viele junge Leute in eine ähnliche Situation gebracht hat, wie die Walfänger vor 200 Jahren: Sie sind für die vorhersehbare Zukunft auf ihre Unterkunft beschränkt, oft weit weg von zuhause, mit endlichen Vorräten, immer einem Risiko ausgesetzt, und verbringen lange Stunden ohne gemeinschaftliche Tätigkeiten.“
Statt also, wie die Walfänger im 19. Jahrhundert vor der Küste von Neuseeland darauf zu warten, dass das „toungin‘“ (bei dem die Zunge des Wals herausgeschnitten wird) vorbei ist, sitzen wir zuhause und warten auf die Impfung. Aber, wie könnte es anders sein, auch die Geschichte dieser tröstlichen Lieder ist durchzogen von Tierquälerei, Ausbeutung und Kolonialismus. Der Rhythmus der Lieder sollte „auch noch das letzte bisschen aus Männern herausholen, die fortwährend müde, überarbeitet und unterernährt waren“, schreibt Harold Whates in „The Background of Sea Shanties“. Walfangschiffe waren außerdem für viele indigene Völker im Südpazifik die ersten Vorboten der Kolonialisierung (gerade in einem Buch über Nauru gelesen, das auch sonst sehr empfehlenswert ist, wenn einen so etwas interessiert).
Das bekannteste deutsche Seemannslied, das es allerdings noch nicht zu einem TikTok-Kanon gebracht hat, ist „Wir lagen vor Madagaskar“, und dort hat man bekanntermaßen die „Pest an Bord“. Auch sonst findet sich einiges an assoziativen Querverweisen in der Schifffahrt – die „Quarantäneflagge“ wurde zum Beispiel mit der starken Ausweitung des internationalen Seehandels im 19. Jahrhundert eingeführt. Schiffe, die Kranke an Bord hatten, mussten ihre quaranta giorni im Hafen ausharren. Heute wird die Flagge mit umgekehrter Bedeutung eingesetzt, um zu signalisieren, dass alle an Bord gesund sind.
*
Wer mich kennt, weiß, dass ich trashiges Fernsehen liebe. So richtig trashiges Fernsehen. Nicht mit der ironischen Distanzhaltung, mit der sich das deutsche Feuilleton am Dschungelcamp abarbeitet, sondern mit vorbehaltsloser Freude. Kein Format ist mir zu albern, keine Prämisse zu dämlich. Den gesamten Januar habe ich damit verbracht, „Below Deck“ zu sehen, feinstes Reality TV, konsumierbar auf Netflix. Die New York Times warnt, völlig zu recht:
„Diejenigen, die ‚Below Deck‘ […] noch nie gesehen haben und die nicht den Rest ihres Lebens an Bravos maritimen Fernsehprogramm festkleben wollen, dürfen niemals auch nur eine Minute dieser Serie anschauen, denn ‚Below Deck‘ lockt die Zuschauer mit der unbarmherzigen Leichtigkeit der Sirenen, die Seefahrer dazu brachten, ihre Schiffe an den sonnigen Küsten Griechenlands zu zerschmettern.“
Die Serie folgt einer Gruppe von neun bis zehn Menschen, die auf einer Luxusyacht arbeiten. Das Schema ist simpel: In jeder Folge begleiten wir die Crew, wie sie sich um eine Gruppe von mehr oder weniger unmöglichen Gästen kümmern. Die Arbeit ist hart, die Protagonist*innen sind jung und schön, Dreiecksbeziehungen und Drama sind uns sicher.
Vielleicht ist „Below Deck“ aber auch deshalb so einnehmend, weil sich Reality TV so selten in den Gefilden der Arbeitswelt aufhält. Die Konflikte, die wir sehen, sind nicht auf Eifersuchtsdramen beschränkt, sondern weiten sich aus auf professionelle Hierarchien, Strukturen und Kommunikation. Natürlich ist vieles davon so problematisch, dass man am liebsten die Fernbedienung (Snacks) nach dem Fernseher (Computerbildschirm) werfen möchte. In der ersten Staffel wird die sexuelle Belästigung einer „Stewardess“ nicht nur unter den Tisch gefegt, sie wird auch noch für ihre Wut darüber fast gefeuert. Der einzige Trost: Das war 2013, heute müsste das Netzwerk für so etwas bitter büßen. Wir sind also doch ein wenig weitergekommen, auch wenn es sich oft nicht so anfühlt.
Reality TV ist eines der wenigen Formate, die im letzten Jahr neue Staffeln produziert haben. Das liegt daran, dass die Bedingungen, die dafür hergestellt werden müssen, sowieso einer Quarantäne ähneln. Isolation ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dieser Sendungen. Für „The Bachelor“ werden die Kandidatinnen wochenlang auf einem Gelände eingesperrt, müssen ihre Handys abgeben, dürfen nicht einmal lesen. Nur durch diese Art von Gehirnwäsche kann gewährleistet werden, dass die Protagonist*innen sich genügend füreinander interessieren, um sinnlose Streits und noch sinnlosere Affären anzufangen. Die nötigen Konditionen sind auf einem Schiff von vorneherein gegeben: Der Empfang ist schlecht, man lebt eng beieinander, und um sich zurück zu ziehen, haben alle zu viel zu tun.
Wir lernen also: Wer in Isolation lebt, sollte sich mit Dingen außerhalb von sich selbst beschäftigen, um unnötige Konflikte zu vermeiden. Hier sind ein paar Vorschläge.
Nadja Abt
“Der Beruf der Seefahrerin stellt einen der stärksten Gegensätze zur domestizierten Arbeitswelt der ‚Hausfrau‘ bzw. dem mit Arbeitnehmerinnen konnotierten Sektor der sozialen Berufe dar. Eine Gemeinsamkeit läge wohl darin, dass sie, für die Öffentlichkeit unsichtbar, das Mühlrad der Globalisierung und des Kapitalismus antreiben – um dabei völlig unterbezahlte, nicht anerkannte oder nicht rechtlich geschützte Arbeit zu verrichten.“
So konzise beschreibt die Künstlerin Nadja Abt die widersprüchlichen Rollen, die Frauen in der Seefahrt zugeschrieben werden. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie sich seit Jahren in ihren Arbeiten mit diesem Thema befasst. Für ihre Investigationen mobilisiert sie alle möglichen Formate. Das obenstehende Zitat stammt aus „Texte zur Kunst“, einer Ausgabe mit dem Thema „The Sea“ (2019), die von Nadja Abt konzipiert wurde.
2017 überquerte sie selbst auf einem Containerschiff den Atlantik, sie fuhr von Hamburg aus nach Santos (Brasilien) und dokumentierte dabei das Leben der beiden Seefahrerinnen, die zufällig mit ihr an Bord des Frachters waren. Der aus dieser Reise entstandene Film „Der Tag einer Seefrau an Bord“ spinnt ein dokumentarisches Narrativ aus feministischer Perspektive. Das Interesse an Erzählungen, die Beschäftigung mit den überlieferten Motiven der Seefahrt in Film und Literatur ist ein Element, das sich durch Nadja Abts Arbeiten zieht. Der Kanon bekommt einige Ergänzungen; den alten Konventionen werden neue Bilder, Metaphern und Motive entgegengesetzt. Der abenteuerliche Impetus beispielsweise, der Frauen auf See traditionell abgesprochen wird, rückt wieder in den Vordergrund.
Seit dem 8.2. ist auf der Webseite des KW Institut für zeitgenössische Kunst das Hörspiel „Mutiny on the Bivalvia – Interview with a Seafarer“ (2021) zu hören. Es geht um die Machtverhältnisse an Bord, um Freundschaft und Beziehungen und darum, wie es unter der Frauschaft der Bivalvia zu Schiffbruch und Meuterei kommen konnte.
Neben Performances (wie zum Beispiel „Undine“, 2017) arbeitet Nadja Abt auch mit Malerei und Collage. Die Bilder in diesem Newsletter entstammen der Serie „BIVALVIA“ (2020), in der die Künstlerin Fotografien und Gouache-Malerei nutzt, um oszillierende, verworrene Meereswelten zu erschaffen, die aus ihrer starken Farbgebung trotzdem Klarheit und Struktur ziehen.
In Jakob Noltes Hörspiel „Die Glücklichen und die Traurigen“ wird ein ganzes Dorf – mitsamt aller Menschen – in Niedersachsen von einer unbekannten Investorin aufgekauft und mit unbestimmtem Ziel verschifft. Das Bundesland lässt sich auf den Verkauf ein, weil es nach Fehlinvestitionen eines Autokonzerns kurz vor dem Bankrott steht. Nolte stellt sich als Meister des Dialogs heraus, und das ist gut so, denn die Geschichte spielt sich hauptsächlich auf dem Schiff ab und besteht aus den Gesprächen der Menschen an Bord. Die Unterhaltungen gehen durcheinander: Von der Schwierigkeit, eine Cola zu bestellen, über Liebeserklärungen und Befindlichkeiten, bis hin zu hochdurchdachten Monologen über deutsche Erinnerungskultur, strukturelle Unterdrückung und neoliberale Gesellschaftspolitik hören wir in diesen 70 Minuten alles mögliche. Am tollsten an der ganzen Sache ist die Sprache, die hinter ihrem mühelosen Realismus die Art von Verdichtung versteckt, die entsteht, wenn ein Text über längere Zeit hinweg immer weiter verdichtet wird. Jakob Nolte schreibt übrigens auch sehr gute Bücher, und am 15.2. ist sein neuer Roman „Kurzes Buch über Tobias“ erschienen.
Auch in Jovana Reisingers Serie „Men in Trouble“ wird geredet. Eine pinke Satinwelt dient als Hintergrund einer bizarren Talkshow. Viel bizarrer als die Talkshows, die jeden Abend im Fernsehen laufen, ist sie aber nicht, und darin besteht ja das Geheimnis guter Satire: Ihr Abstand zur Realität muss genau kalibriert sein. Wenn die Moderatorin (gespielt von Julia Riedler, die die Kunst des deadpan formvollendet beherrscht) also ihre Gäste mit abnehmendem Enthusiasmus über Themen wie „Glück“, „Liebe“ und „Geld“ interviewt, sind die Plattitüden, die alle von sich geben, nur so weit überzeichnet, dass es gerade gruslig genug ist, um lustig zu sein. Dosenlacher, Einblendungen und ein irrsinniges, pinkes Bühnen- und Kostümbild unterstreichen die brutale Banalität des Talkshowformats. Die feministischen Einlassungen, mit denen die Moderatorin allmählich die Kontrolle verliert, sind Ausdruck ihrer Verzweiflung – aber auch ein angenehmer Ausbruch aus der grellen, klaustrophobischen Welt, die Jovana Reisinger gebaut hat.
Jovana Reisingers neues Buch, „Spitzenreiterinnen“ ist am 18.2. im Verbrecher Verlag erschienen.
Weil wir nicht aufhören dürfen, darüber zu reden, haben Sham Jaff und Alena Jabarine für ihre sechsteilige Serie „190220 – Ein Jahr nach Hanau“ (auf Spotify) mit den Familien der Opfer des Anschlags gesprochen. Am 19. Februar 2020 jährte sich die Tat, bei der ein rechtsextremer Terrorist neun junge Menschen aus rassistischen Motiven erschossen hat. Der Podcast widmet sich den offenen Fragen, mit denen sich die Hinterbliebenen quälen – denn der Attentäter ist tot, ein Gerichtsverfahren wird es nie geben. Das sind auch Fragen nach der Rolle der Polizei und der Politik, vor und nach dem Anschlag. Während sich unzählige Artikel ausführlich an dem Hintergrund und dem psychischen Innenleben des Täters abgearbeitet haben, sprechen die Reporterinnen mit den Angehörigen, die um eine lückenlose Aufklärung kämpfen.
Beim Reden zuhören konnte man am 25. Februar Bernadine Evaristo und Jackie Thomae. Bei einer Online-Veranstaltung, die man hier sehen kann, sprachen sie über Evaristos Buch „Mädchen, Frau, etc.“, das 2019 den Booker Prize bekam und im Januar nun endlich auch in Deutschland erschienen ist. Das episodenhaft lyrische Buch folgt 12 Protagonist*innen, die meisten von ihnen Schwarz, viele weiblich, manche „other“, wie es im englischen Titel heißt. Jackie Thomae, deren großartiges letztes Buch „Brüder“ auch 2019 erschienen ist, mit dem Gespräch zu betrauen, konnte gar nicht falsch sein. Ich würde so gerne öfter dieses Format sehen: Schriftstellerinnen im Gespräch mit anderen Schriftstellerinnen – nicht bloß als Werkstattgespräch, sondern als Austausch über Literatur. Zu allem Überfluss bekommt die Veranstaltung auch noch musikalische Unterstützung von Joy Denalane und eine Lesung von der Schauspielerin Constanze Becker.
Wer nicht nur monatlich meinem Konsumverhalten folgen will, sondern auch sehr sporadische Hottakes lesen will, kann mir auf Twitter folgen. Urlaubsfotos und andere halbherzige Selbstdarstellungen gibt’s auf meinem Instagram-Account.